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"Die beste Klassenfahrt, die wir je hatten"

... Die Zimmereinteilung ist nicht optimal, es gibt „Gewinner“ und „Verlierer“, viel zu wenig Zeit, sich in Ruhe „einzuleben“ und Befürchtungen, dass „…wir auf der Klassenfahrt keinen Spaß haben werden, weil wir ständig zu etwas gezwungen werden, wozu keiner richtig Lust hat“, so die Äußerungen gegenüber der Teamerin, die der Klasse vom erlebnispädagogischen Anbieter Event Nature an die Seite gestellt wird.
 

Anderthalb Stunden später Gelächter und Freude bei den ersten Gruppenübungen mit Seil. So viel, dass die Jugendlichen immer wieder neue Varianten vorschlagen. „Und das Essen war auch richtig super!“ Also doch eine gute Klassenfahrt?Zumindest der Auftakt ist nach ersten Misstönen gelungen. Aber Grenzerfahrung ohne Reibung? – Das geht nicht. Da ist die Teamerin, die deutlich macht, was schiefläuft beim Miteinander in der Klasse. „Bei euch wird nur das gemacht, was die Lautesten äußern.“Kann das sein, wenn das Selbstbild ein ganz anderes ist?„Wir sind toll! Das liegt nur daran, dass die uns nicht mag.“ „Ich hab‘ jetzt keine Lust mehr.“ „Selber schuld, wer sich nicht vernünftig laut äußern kann.“Aber das ist nicht die einzige Krise, die erlebt und bearbeitet wird.

Insbesondere die Außenübernachtungen auf dem Zeltplatz, die Bestandteil des pädagogischen Programms von Event Nature in Kröchlendorf sind, haben es in sich.Da sind die kleinen Fliegen, die auf kein Insektenabwehrspray reagieren und mit Einbruch der Dunkelheit anfangen zu beißen. Da sind feste Duschzeiten, wenn keiner duschen will und keine Gelegenheit zu duschen, wenn einem danach ist. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Schlafzelte zu nutzen – und erst in der Nacht haben zu eilig und unüberlegt getroffene Entscheidungen ermüdende Konsequenzen.Das vor allem ist anstrengend, Verantwortung zu übernehmen und mit den Folgen der eigenen Entscheidungen immer wieder konfrontiert zu werden. Wenn die für sich selber eingeteilte Tagesration Lebensmittel doch nicht bis zum Abendessen reicht. Wenn oberflächlich Abgewaschenes vom nächsten Tischdienst ge- und von allen als schlampige Arbeit entdeckt wird. Wenn ein mit vier Führungspersönlichkeiten besetztes Paddelboot sich immer nur im Kreis dreht, solange keiner bereit ist, auch mal auf die anderen zu hören.Immer wieder sind die Jugendlichen gefordert, die eigene Position zu überdenken, Neues auszuprobieren, ungewohnte und zum Teil ungeliebte Seiten an sich selbst zu entdecken und zu akzeptieren. Aggressionen und Wut werden in geordnetem Rahmen verbal geäußert und geben Anlass, Dinge anders zu machen oder zu betrachten.Wege dort aufzuzeigen, wo die Jugendlichen allein nicht weiterkommen oder wollen, behutsam Spiegel zu sein, wo keiner hingucken mag – diese Aufgaben haben die erwachsenen Begleitpersonen.Ungeliebt zunächst die Abend- und Morgenrunden, in denen Unmut, Kritik und Reflexion ihren Platz finden. Sich selbst zu hinterfragen, das eigene Verhalten „im Spiegel“ zu sehen, verlangt von den Jugendlichen viel, manchmal zu viel: „Die Zeit hätten wir wirklich besser nutzen können!“Aber da sind auch diese anderen Erfahrungen, die ebenfalls zur Sprache kommen. Matthis, der gar nicht wusste, dass er einen hervorragenden Hefeteig machen kann. Jana und Laura, die andere endlich einmal deutlich und erfolgreich zur Mitarbeit für alle auffordern, weil sie nicht mehr bereit sind, allein die „Drecksarbeit“ zu übernehmen. Marie, die ihre Rolle als Klassensprecherin reflektiert und einsieht, dass es mit Organisieren alleine manchmal nicht getan ist und auch das noch verbessert werden kann. Richard, der mit seinem Kartenspiel endlich in der Klassengemeinschaft „dabei“ ist, wie alle anderen auch. Jasmina, die aus allem das Beste machen kann. Jaqueline, die sich beim Grillen, Pizzabacken und Lagerfeuermachen als echte Feuerexpertin erweist und – sonst eher still – auch bei der Besprechung mancher Themen plötzlich mit Feuer bei der Sache ist. Tom, der Verbrennungen riskiert, um für alle köstliche Pizza aus dem Feuer des Lehmofens zu holen. Moritz, der für alle einkaufen geht und dabei bemerkenswerten Weitblick beweist. Einige, die beim Paddeln feststellen, dass Teamarbeit, wenn jeder seine Aufgabe erfüllt, richtig Spaß macht. Und viele, die zu dem erstaunlichen Schluss kommen, dass man auch müde und ungeduscht glücklich sein kann.„Wir haben kein Mineralwasser mehr, das allen zur Verfügung steht“, wird die Lehrerin am letzten Morgen auf dem Zeltplatz informiert. „Meinen Sie, dass wir die Leute aus der Klasse auffordern sollten, ihre Privatvorräte, die sie aus dem Gemeinschaftsgut genommen haben, wieder herauszurücken?“ Ein kurzes Schulterzucken gibt die Entscheidung an die Jugendlichen zurück. Als alle am Tisch sitzen, steht so viel Mineralwasser zur Verfügung, dass die Reste nach der Mahlzeit erneut an interessierte Einzelne verteilt werden können. So also kann Gemeinschaft funktionieren.„Das Zelten war das beste“, sagt ein Großteil der Jugendlichen in der Reflexion der Klassenfahrt, obwohl sie es in der Situation selbst kaum erträglich fanden. „Es hat mir gezeigt, in was für einem Luxus ich sonst lebe und mir die Augen für Freude an Kleinigkeiten wie an einem Glas Mineralwasser geöffnet.“ Und: „Es hat die Freude auf Schloss Kröchlendorf riesengroß gemacht.“Das von renovierte Gebäude mit seinen festen Räumen, Betten, jederzeit verfügbaren Duschen und für alle zugänglichen Getränken ist die Attraktion der verbleibenden Tage, der Frust des Anfangs völlig bedeutungslos.Und die sozialen Interaktionen? „Es haben diesmal Leute die Führung übernommen, auf die sonst nicht gehört wird“, berichtet ein Junge in der Reflexionsrunde. „Das fand ich gut!“ Zwei Teams hatten die Aufgabe, aus einem bunten Materialsammelsurium jeweils ein Auto zu bauen, das dem des anderen Teams möglichst ähnlich sein sollte. Zusehen durfte man sich nicht, wohl aber, abseits der Bauplätze, miteinander reden. Sich austauschen und abstimmen, das funktionierte. Nahezu identische Fahrzeuge rollen nach anderthalb Stunden den Schlosshügel hinunter.Verlässlichkeit und Vertrauen stehen am letzten Tag im Mittelpunkt. In Dreierteams wird der Klettergarten des Schlosses erobert. „Zuerst hatte ich totale Panik, aber dann wusste ich, dass Tom und Deniz mich in jedem Fall halten werden“, berichtet Inga, „und dann hat es so richtig Spaß gemacht“.Fast allen gelingt es mit Hilfe der anderen, Höhenangst und eigene Grenzen zu überschreiten, auszudehnen. Und fast jeder bekommt am Abend eine Blume geschenkt als Zeichen, dass er für den Schenker in diesen Tagen zu einem ganz besonderen Menschen geworden ist.Während es mit der Teamerin bei der Geste bleibt, erzählen sich die Jugendlichen in einer selbst organisierten „Abendrunde“, worin das Besondere jeweils besteht. Keiner geht leer aus.„Wir fühlen uns jetzt soooo wohl in unserer Klasse“, erfährt die Lehrerin anschließend. „Das war wirklich die beste Klassenfahrt, die wir jemals gemacht haben!“Für das Kurt-Schwitters-Gymnasium in HannoverKerstin Oßenbrügge

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